Inklusion: Ungenutztes Fachkräftepotenzial mit „viel Luft nach oben“

Für Menschen mit Behinderungen ist es häufig schwer, einen Arbeitsplatz zu finden. Dabei können sie für Unternehmen eine wertvolle Rolle spielen.

„Die Erwerbsbeteiligung schwerbehinderter Menschen ist deutlich niedriger als bei der nicht-schwerbehinderten Bevölkerung.“ So steht es in einem aktuellen Bericht der Agentur für Arbeit zur Arbeitsmarktsituation schwerbehinderter Menschen. In Zahlen bedeutet das: Während die bundesweite Erwerbstätigenquote insgesamt bei den 15- bis 65-Jährigen zuletzt bei rund drei Vierteln lag, waren in der Gruppe der schwerbehinderten Menschen weniger als die Hälfte erwerbstätig.

Bremens Landesbehindertenbeauftragter Arne Frankenstein bringt es auf den Punkt: „Da gibt es noch viel Luft nach oben.“ Dabei sei der Bereich Arbeit nicht nur ein wesentlicher Baustein von gesellschaftlicher Teilhabe behinderter Menschen insgesamt. „Letztlich sprechen wir hier auch von einer Arbeitsmarktressource. Wenn die Unternehmen mehr Menschen mit Behinderung in Arbeit bringen, ist das gerade mit Blick auf den zunehmenden Fachkräftemangel in ihrem eigenen Interesse.“

Besonders hapert es laut Frankenstein an den Übergängen zwischen den Werkstätten für behinderte Menschen und dem allgemeinen Arbeitsmarkt: Hier liege die Übergangsquote bei nur rund einem Prozent pro Jahr, teilweise noch darunter. „Was Inklusion in der Schule angeht, sind wir in Bremen relativ weit. Aber dann fallen diese Menschen aus dem inklusiven Schulsystem heraus und es wartet kein inklusiver Arbeitsmarkt auf sie, sondern ein Arbeitsmarkt, der es ihnen sehr schwermacht.“

Vielen behinderten Menschen bleibe dann nur die Beschäftigung in einer Werkstatt. „Und das ist zurecht nicht die Erwartung von jungen Leuten, die in so einem Schulsystem anders sozialisiert worden sind“, kritisiert der Landesbehindertenbeauftragte. „Hier braucht es dringend die Entwicklung konkreter Angebote und die Identifizierung von Tätigkeitsfeldern, in denen behinderte Menschen mit Werkstattberechtigung arbeiten können.“

Viele Möglichkeiten zur Unterstützung und Förderung

Dabei sind die rechtlichen Möglichkeiten zur Unterstützung und finanziellen Förderung von Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderungen schon jetzt gut. So gibt es von Zuschüssen zur Ausbildungsvergütung, zu Lohnkosten und zur Eingliederung über Zuschüsse für Arbeitshilfen bis hin zu Existenzgründungszuschüssen und zur Gewährung von Arbeitsassistenz diverse Instrumente, die zur Verfügung stehen. Erschwert wird das Ganze in der Praxis durch die Tatsache, dass bei der Inklusion von behinderten Menschen am Arbeitsmarkt viele unterschiedliche Akteure tätig sind – unter anderem das Integrationsamt, der Integrationsfachdienst, die Agentur für Arbeit und die Reha-Träger.

„Die Kenntnis dieser Unterstützungssysteme, die es gibt, ist leider nicht sehr ausgeprägt“, hat Frankenstein festgestellt. „Viele wissen nicht genau, wie sie im Einzelfall weiterkommen und wo sich bürokratische Hürden zeigen.“ Abhilfe soll in Bremen nun ein neues Landesgremium „Teilhabe am ersten Arbeitsmarkt“ schaffen, das Ende November zum ersten Mal tagt und in dem Vertreter aller wesentlichen Akteure zusammenkommen sollen. Neben den zuständigen Ressorts und Ämtern werden dann unter anderem auch Unternehmensverbände und Kammern mit am Tisch sitzen.

Was dem Landesbehindertenbeauftragten aktuell besonders wichtig ist: Zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen von Bund und Ländern hat er Mitte Oktober ein Positionspapier verabschiedet, in dem die künftige Bundesregierung aufgefordert wird, schon in den Koalitionsverhandlungen die Belange von Menschen mit Behinderungen als Querschnittsthema in allen Politikfeldern zu berücksichtigen. Mit Blick auf den Arbeitsmarkt fordern die Behindertenbeauftragten darin insbesondere eine deutliche Erhöhung der Ausgleichsabgabe, die Unternehmen mit 20 oder mehr Beschäftigten zu zahlen haben, wenn sie nicht mindestens fünf Prozent der Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzen.

„Den Lebensunterhalt selbst verdienen zu können, ist Kernbestandteil für ein selbstbestimmtes Leben“, heißt es in dem Papier. Und obwohl die Beschäftigung von behinderten Menschen eindeutiger gesetzlicher Auftrag sei, würden sich viele Unternehmen noch immer nicht daran halten, betont Arne Frankenstein. „Eine höhere Ausgleichsabgabe würde einen Anreiz liefern, das zu verändern“, meint er.

Fort- und Weiterbildungen

Menschen mit Behinderungen die Teilhabe am Arbeitsleben und damit auch an Fort- und Weiterbildungen zu ermöglichen, kann durchaus mit Herausforderungen verbunden sein – die sich aber mit etwas Engagement zumeist gut lösen lassen. Diese Erfahrung macht auch die Handelskammer Bremen – IHK für Bremen und Bremerhaven immer wieder. So absolvierte hier kürzlich der Gehörlose Tim Krenke eine Weiterbildung zum Geprüften Industriemeister – Fachrichtung Metall, was sowohl im Unterricht als auch in den Prüfungen die Anwesenheit eines Dolmetschers beziehungsweise einer Dolmetscherin erforderlich machte. „Solche Prüfungen müssen dann schon etwas aufwändiger organisiert werden“, berichtet Claudia Schlebrügge aus dem Bereich Aus- und Weiterbildung der IHK. „Aber das ist auch in diesem Fall wieder sehr positiv gelaufen. Was wir möglich machen können, machen wir auf jeden Fall möglich.“

Ob Prüfungen mit angepassten Schriftgrößen für Menschen mit Sehbehinderungen oder barrierefreie Prüfungen für Rollstuhlfahrende: Lösungen lassen sich eigentlich immer finden. Schlebrügge ermuntert darum an Weiterbildung interessierte Menschen mit Behinderungen ausdrücklich, die Initiative zu ergreifen. „Sie sollten den Mut haben, das anzugehen – und es sich auch zutrauen.“ Und an die Unternehmen appelliert sie, ihre Beschäftigten bei solchen Vorhaben zu unterstützen: möglichst auch finanziell.

Vorbehalte abbauen

Unterdessen wünscht sich Arne Frankenstein, dass die Vorbehalte, die es gesamtgesellschaftlich und damit auch in der Arbeitswelt gegenüber behinderten Menschen nach wie vor gibt, Schritt für Schritt abgebaut werden. „Das sind oft diffuse Sorgen, die sich gar nicht so konkret benennen lassen“, meint der Landesbehindertenbeauftragte. Aus seiner Sicht sollten Unternehmen daher nicht nur ein größeres Bewusstsein dafür entwickeln, dass Inklusion eine menschenrechtliche Aufgabe ist. „Sondern sie sollten sich auch klar machen, dass hier ein großes Potenzial liegt, das sie für ihren Betrieb heben können.“

Sein Tipp: einfach ausprobieren – und damit anfangen, Menschen mit Behinderungen tatsächlich einzustellen, wenn sie fachlich geeignet sind. „Es ist Bestandteil von Führungskultur, unterschiedliche Menschen mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten wahr- und ernstzunehmen“, macht er deutlich. „Das ist bei behinderten Menschen nicht anders als bei allen anderen Beschäftigten auch.“

Bremerhavener Inklusionspreis ausgeschrieben

Ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben für alle in der Gesellschaft zu ermöglichen: Das hat sich das Netzwerk Inklusives Bremerhaven auf die Fahnen geschrieben, das vor etwa einem Jahr offiziell an den Start gegangen ist und in dem alle wesentlichen Akteure der Inklusionsarbeit in der Seestadt vertreten sind. Träger des Netzwerks ist die Stiftung Inklusive Stadt, die zugleich auch Muttergesellschaft des Inklusionsunternehmens Raumwerkerei sowie des damit verbundenen Beschäftigungsprojekts Förderwerk ist.

Um das Engagement für Inklusion in Bremerhavener Unternehmen zu würdigen, hat das Netzwerk jetzt erstmals den „Bremerhavener Inklusionspreis für Inklusion im Arbeitsleben“ ausgeschrieben. Bis zum 15. November konnten sich in der Seestadt ansässige Betriebe bewerben, die „Ideen mit besonderer Strahlkraft“ bei der Ausbildung oder (Weiter-)Beschäftigung von Menschen mit besonderen Herausforderungen entwickelt haben.

Mehr Fördermittel für Arbeitsplätze in Inklusionsunternehmen

Das Amt für Versorgung und Integration Bremen (AVIB) wird zum 1. Januar 2022 das neue Aktionsprogramm „Initiative Inklusion im Betrieb“ auflegen, um mehr Arbeitsplätze in Inklusionsunternehmen zu schaffen. Kern des Programms ist die Erhöhung investiver Zuschüsse von 20.000 Euro auf bis zu 50.000 Euro pro neu geschaffenem Arbeitsplatz. Für die investiven Mittel werden insgesamt 2 Millionen Euro aus der Ausgleichsabgabe zur Verfügung gestellt.

Neben der verbesserten investiven Förderung ist auch eine Erhöhung der laufenden Nachteilsausgleiche geplant. Demnach soll für Inklusionsbetriebe, die mindestens den Landesmindestlohn zahlen, der Ausgleich der außergewöhnlichen Belastungen von 30 Prozent des Bruttogehalts auf 35 Prozent erhöht werden.

Auftakt der Initiative „Inklusion im Betrieb“ war die Feier zur Gründung der Landesarbeitsgemeinschaft Inklusionsfirmen Bremen am 14. Oktober 2021. Weitere Informationen: https://bag-if.de/landesarbeitsgemeinschaften/lag-if-bremen/

Leistungen an schwerbehinderte Menschen

Zusätzliche Angebote bestehen für Unternehmen, die schwerbehinderte Menschen einstellen:
https://www.avib.bremen.de/integrationsamt/leistungen-an-schwerbehinderte-menschen-12384