Einem langen Aufschwung folgte die Zeit der multiplen Krisen für die deutsche Industrie. Auf den folgenden Seiten beleuchten wir die Ursachen der Probleme, nennen politische Handlungsfelder und zeigen, warum Deutschland besonders gute Chancen durch die Digitalisierung der industriellen Produktion aufweist. Anschließend stellen wir ein Unternehmen vor, das sich durch Innovation und Wandel erfolgreich am Standort Bremen behauptet.
Immer mehr Unternehmen sitzen auf gepackten Koffern: Bei einer Umfrage des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) im Sommer gaben 16 Prozent der Unternehmen an, sie seien bereits aktiv dabei, Teile der Produktion und Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern. Fast ein Drittel berichtete, es denke zumindest darüber nach. Diese ausbleibenden Investitionen in neue Anlagen und Technologien werden sich im Laufe der Zeit durch mangelnde Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland bemerkbar machen, glaubt BDI-Präsident Siegfried Russwurm. Er habe „die Sorge, dass wir uns über die Zeit zum Industriemuseum entwickeln“, sagte er bei einer Veranstaltung in der Handelskammer Bremen am 29. September. Auf die Frage, ob er die Ampel für die deutsche Industrie auf Grün, Gelb oder Rot sehe, antwortete er daher: „Sie blinkt gelb.“
Deformation statt Transformation
„Wir befinden uns an einem industriellen Kipppunkt“, warnte auch Prof. Henning Vöpel, Direktor des Centrums für Europäische Politik (CEP) und Vorstand der Stiftung Ordnungspolitik, im Rahmen der Veranstaltung „Die Zukunft der bremischen Industrie im Kontext multipler Krisen“. „Wir sehen, dass bereits erste Investitionen abfließen.“ Die USA hätten mit dem Inflation Reduction Act ein umfassendes Programm aufgelegt, um produzierendes Gewerbe anzulocken, aber das erkläre nicht alles. „Die Standortbedingungen hier sind schlecht – und sie sind womöglich hausgemacht schlecht“, sagte Vöpel. Was jetzt verloren gehe, werde möglicherweise nicht wieder zurückkommen, weil die Industrie in Innovations- und Investitionszyklen funktioniere, besonders zu Beginn von Transformationsprozessen wie der aktuellen Dekarbonisierung. Ausgerechnet in einer Phase, in der es darum gehe, grüne Wachstumsmodelle zu entwickeln, seien die Skalierungs- und Wachstumsbedingungen in Deutschland schlechter als in vielen anderen Ländern. „Man muss sich insgesamt Sorgen machen, dass Geschäftsmodelle, die modern und zukunftsfähig sind, in Deutschland keinen Platz mehr haben.“
Dies liege auch daran, dass die Bundesrepublik ein geostrategisches und industriepolitisches Defizit aufgebaut habe, so Vöpel. Das rasante Wachstum des Absatzmarkts China, die billige Energie aus Russland und die fast kostenlos bereitgestellte Sicherheit aus den USA hätten Deutschland in 15 Jahren des kontinuierlichen Aufschwungs beflügelt. Das Ende dieser glücklichen Konstellation treffe das Land unvorbereitet, weil es seit der Agenda 2010 keine nennenswerten Reformen mehr gegeben habe. „Wir brauchen eine Agenda 2030“, betonte Vöpel. Weitere Regulierungen und Verbote seien dabei nicht der richtige Weg: „Das ist eher eine Deformation, die wir bekommen, als eine Transformation“, kritisierte er. „Der Staat wird durch die Eingriffe nicht die Menge an Investitionen bekommen, die wir zur Vollendung der Transformation brauchen.“
Mangel an Planungssicherheit
Ein Grund dafür, dass Unternehmen ihre Investitionen in Deutschland – und teilweise dem Rest Europas – zurückhalten, ist mangelnde Planungssicherheit. Reiner Blaschek, CEO von ArcelorMittal Germany, bekräftigte die erheblichen Anstrengungen seines Unternehmens, den komplizierten Umstieg von Kohleenergie über Gas zum grünen Wasserstoff zu schaffen. Wenn man jedoch Anträge an die EU oder den Bund stelle, müsse man sich verpflichten, so schnell wie möglich grünen Wasserstoff einzusetzen – „wohl wissend, dass es den noch nicht gibt und dass wir noch nicht einmal ein Preisschild dafür kennen“, so Blaschek. „Wie soll ein Unternehmen Investitionsentscheidungen treffen, wenn es dazu verpflichtet ist, etwas einzusetzen, ohne das berechnen oder bewerten zu können?“ Er glaube nicht, dass die klimafreundliche Transformation verlangsamt werden müsse. „Wir müssen sie aber in sinnvollen Schritten machen.“
Auch Jörg Bieß, Geschäftsführer der Azul Kaffee GmbH, kämpft mit Regulierungen wie dem Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz und der CSRD-Richtlinie der EU. „Ich habe mich heute nur mit neuen Verordnungen beschäftigt“, berichtete er. „Wir versuchen, die ganzen Vorgaben umzusetzen. Aber das bindet unheimlich viel Kraft und Zeit.“ Nachhaltigkeit sei für sein Unternehmen ein sehr wichtiges Thema, aber er wünsche sich, dass die Politik die Regularien besser durchdenkt. „Bitte haben Sie einen Plan und bitte erklären Sie ihn auch gut“, forderte er.
Riesiger Dokumentationsaufwand
BDI-Präsident Russwurm sieht im Lieferkettensorgfaltsgesetz ein besonders eklatantes Beispiel der überbordenden Bürokratie. „Niemand will Kinderarbeit in seiner Lieferkette akzeptieren, also ist es verboten. Wen wir erwischen, den sanktionieren wir. Das ist wie beim Falschparken. Was wir aber im Lieferkettensorgfaltsgesetz machen: Immer, wenn wir irgendwo parken, müssen wir einen Bericht nach Flensburg schicken, um nachzuweisen, dass wir richtig parken. Das erfordert einen riesigen Dokumentationsaufwand.“ Darüber hinaus bemängelte er, dass Innovationen in Europa oft unter Risikogesichtspunkten gesehen würden, wie beim pauschalen Verbot der 12.000 PFAS-Chemikalien. In der Medizintechnik spielten einige dieser Stoffe beispielsweise eine essenzielle Rolle. „Da darf man sich nicht wundern, wenn die Unternehmen anderswo investieren.“
Bremens Bürgermeister Dr. Andreas Bovenschulte stimmte zu, dass die Bürokratie an vielen Stellen zu sehr überhand genommen habe. Er verteidigte jedoch unter anderem das Lieferkettengesetz: „Wir in Bremen halten die Fahne der Globalisierung hoch“, sagte er. „Statt Entglobalisierung wollen wir die Wirtschaft so gestalten, dass alle etwas davon haben. Das brauchen wir, um auch den Kräften der Deglobalisierung einen Plan entgegenzusetzen.“ Auch dem mehrfach geäußerten Vorwurf der politischen Planlosigkeit trat er entgegen: „Eine komplexe Welt mit einem Generalplan steuern zu wollen, ist natürlich völlig aussichtslos.“ In einigen Bereichen gebe es einen guten Plan, der auf die verschiedenen Ziele abgestimmt sei, in anderen müsse nachgearbeitet werden. „In einer pluralistischen Demokratie ist das aber normal.“
Strommarkt nach Angebot und Nachfrage ausrichten
Als wichtige politische Aufgaben sieht Bovenschulte es aktuell, den Strommarkt so zu gestalten, dass er auf Angebot und Nachfrage reagiert: „Da, wo das Angebot hoch ist und die Nachfrage gering, muss der Strompreis niedriger sein“, sagte er. „Dann wird es eine vernünftige Allokation von Ressourcen geben.“ Gleichzeitig müsse der Energy Port auf den Weg gebracht werden, weil er für die Offshore-Windenergie unverzichtbar sei. Der Bürgermeister will sich außerdem dafür einsetzen, dass der industrielle Kern Bremens mit dem Stahlwerk, der Automobilproduktion, dem Flugzeugbau und weiteren Akteuren erhalten bleibt, damit sich ein Szenario wie nach der AG-Weser-Pleite 1983 nicht wiederholt. Auch den gesamten Bereich Wissenschaft und Bildung sieht er als zentral an, um die industrielle Zukunft zu sichern.
Prof. Vöpel gab der Bremer Wirtschaft und Politik einen weiteren Rat mit auf den Weg. Bremen sei nicht nur der siebtwichtigste Industriestandort Deutschlands, sondern von der Struktur her auch so etwas wie ein Reallabor. Am Anfang eines Strukturwandels wie dem aktuellen komme es auf Geschwindigkeit an, wenn man zu den Gewinnern zählen möchte. „Geben Sie diese Chance nicht aus der Hand“, sagte er. „Und wenn Sie etwas beginnen, tun Sie das mit Optimismus. Mein Eindruck ist: Die Demokratie braucht ein bisschen Optimismus.“