Die Krankenkassen sind der wichtigste Knotenpunkt bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Laut HKK-Vorstand Michael Lempe baut Deutschland jetzt mit reichlich Verzögerung die nötige Infrastruktur dafür.
Die Handelskrankenkasse (HKK) in Bremen hat für ihre Mitarbeitenden eine Spielweise gebaut – einen virtuellen Experimentierraum, in dem die Beschäftigten neue Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz (KI) ausprobieren können. Die Erfahrungen seien vielversprechend, berichtet Vorstand Michael Lempe. Schon jetzt setzt das Unternehmen beispielsweise KI-Anwendungen zur Plausibilitätsprüfung von Krankenhausrechnungen ein – wenn das System etwas Auffälliges findet, wird ein Mensch hinzugezogen, um sich den Fall anzusehen. In Zukunft soll die KI auch Call-Center-Aktivitäten unterstützen, indem sie beispielsweise die Antworten auf E-Mail-Anfragen vorformuliert, bevor die zuständigen Mitarbeitenden sie gelesen haben. Wenn das gut funktioniert, ist die Zeitersparnis enorm.
Auch für Patientinnen und Patienten verspricht die Digitalisierung des Gesundheitssektors erhebliche Vorteile. Die durchgehende Dokumentation von Untersuchungsergebnissen, Diagnosen und Verordnungen in der elektronischen Patientenakte (ePA) ermöglicht fundiertere ärztliche Einschätzungen und vermeidet Mehrfachuntersuchungen. Und sie erhöht die Sicherheit bei der Medikamenteneinnahme: „Mehr als 10 Prozent der Krankenhauseinweisungen in Deutschland basieren auf unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen“, berichtet Lempe. Spätestens ab fünf einzunehmenden Medikamenten sei es sehr schwer zu beurteilen, wie die Substanzen miteinander interagieren. Ein digitaler Abgleich mit entsprechenden Datenbanken könne bei dieser Beurteilung helfen und eventuell automatisierte Warnungen aussenden, um die sogenannte Arzneimitteltherapiesicherheit zu erhöhen. Dies gelte besonders auch für Fälle, in denen Patienten selbst nicht benennen können, was sie bereits einnehmen. Ärztinnen und Ärzte hören laut Lempe regelmäßig Selbstauskünfte der Patienten wie „Morgens nehme ich die gelben Tabletten und abends die blauen“.
Darüber hinaus bietet die Verfügbarkeit großer Mengen anonymisierter Gesundheitsdaten auch ganz neue Potenziale für die Forschung, was den Patientinnen und Patienten in Zukunft durch neue und bessere Therapien zugutekommen wird.
Mehr als zwei Jahrzehnte hinter anderen Ländern
Trotz dieser Vorteile hinkt Deutschland einigen Ländern wie Estland, Finnland und Dänemark bereits mehr als 20 Jahre in der Entwicklung hinterher, wie Michael Lempe betont. Die beiden zentralen Voraussetzungen für die Digitalisierung seien jedoch mittlerweile auch hier geschaffen oder zumindest in Vorbereitung: Eine sichere Telematikinfrastruktur – die Datenautobahn für das Gesundheitswesen – sei bereits im Einsatz, und 2026 komme auch die digitale Identität, die eine Zuordnung der Daten zu einer Person ermöglicht. Das Ringen um die digitalen Identitäten ist auch einer der Gründe, warum es so lange gedauert hat: In Deutschland wird aus historischen und kulturellen Gründen wesentlich mehr Wert auf Datenschutz gelegt als anderswo. „Es gehört nicht zum deutschen Verständnis, dass man mit den Risiken auch die Chancen abwägt“, so Lempe. Die neue Datenschutzbeauftragte des Bundes mache ihm aber Hoffnung, „dass eine ermöglichende Interpretation der Datenschutzgrundverordnung Einzug hält und der Schaden für Deutschland geringer wird.“
Die erste Anwendung dieser Datenautobahn war der automatische Abgleich der Patientendaten beim Einlesen der Karte in der Arztpraxis. Einen kleinen Durchbruch stellte dann das elektronische Rezept dar, das nicht nur das Papier für 500 Millionen verordnete Medikamente pro Jahr spart, sondern auch die Weitergabe zusätzlicher Informationen ermöglicht, beispielsweise die individuelle Dosierung für die Patientinnen und Patienten. Allerdings entsteht für die Apotheken selbst teilweise Mehraufwand (s. S. 28).
Halbherzige Digitalisierung schafft Mehraufwand
Auch die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) wurde mittlerweile umgesetzt. Die Bescheinigung wird direkt aus dem Praxisverwaltungssystem an die jeweilige Krankenkasse weitergeleitet, wo die Arbeitgeber sie abrufen können. Auch hier hat das deutsche Verständnis des EU-Datenschutzrechts jedoch über den Pragmatismus gesiegt: Die Bescheinigungen landen nicht automatisch beim Arbeitgeber, sondern dieser muss jeden Tag anfragen, ob sie vorliegen – für jeden kranken Beschäftigten einzeln. Dieser Vorgang kann in größeren Unternehmen zwar durch ein Personalmanagementsystem weitgehend automatisiert werden, aber auch dort entsteht Mehraufwand, weil die Kommunikationskette zwischen den Beschäftigten, deren Vorgesetzten und der Personalabteilung aufrechterhalten werden muss. Früher wurde der Fall einfach bearbeitet, sobald die Bescheinigung im Eingangskorb lag. „Es ist unfassbar, wir haben einen millionenfachen Vorgang digitalisiert, der die Arbeitgeber betrifft, und die haben dadurch einen Mehraufwand“, kritisiert Lempe.
Die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen lassen sich durch diese ersten Anwendungen noch nicht eindämmen, aber die Infrastruktur ist bald bereit für eine neue Ära der intelligenten Datennutzung. Die immer noch weit verbreiteten Faxgeräte können dann endlich aus Praxen und Krankenhäusern verschwinden.