Die Offshore-Windenergie ist vom Stiefkind der Wirtschaftspolitik wieder zum Hoffnungsträger geworden. Vertreterinnen und Vertreter der Branche diskutierten am 25. Oktober in der Handelskammer mit Wirtschaftssenatorin Kristina Vogt und Professor Holger Lange von der Hochschule Bremerhaven über die Potenziale des Booms für den Nordwesten.
„Der Ausstieg aus der Windkraft könnte noch schneller kommen als der aus der Kohle“, schrieb die Wirtschaftswoche vor vier Jahren. Anlass war die Nachricht, dass die Branche weitere 10.000 Mitarbeitende verloren hatte, nachdem bereits im Jahr zuvor aufgrund des schleppenden Windenergie-Ausbaus rund 26.000 Jobs gestrichen worden waren. Der Einbruch traf auch den Nordwesten hart. Die politisch herbeigeführte Drosselung des Windenergie-Ausbaus habe die Unternehmen damals massiv geschwächt, berichtete Thorsten Rönner, Vizepräses der Handelskammer und Geschäftsführer der Lloyd Werft Bremerhaven, beim Branchentreffen am 25. Oktober 2023 im Haus Schütting. Unter dem Titel „Wird die Offshore-Windenergie eine (neue) Chance für Bremen, Bremerhaven und den Nordwesten?“ diskutierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über die Chancen aus der 180-Grad-Wende, die das Thema in den vergangenen beiden Jahren erfahren hat.
Vizepräses Rönner zeigte sich bei der Begrüßung der Gäste ausgesprochen optimistisch: Bis Mitte des letzten Jahrzehnts sei Bremerhaven noch weltweit führend im Bereich der Offshore-Windenergie gewesen – „und da gehören wir wieder hin“, betonte er. Die Offshore-Windenergie sei eine Riesenchance und er glaube „fest daran, dass die Küste aufblüht und eine wirtschaftlich florierende Region sein wird.“
„Ungeheures Wertschöpfungspotenzial“
Auch Wirtschaftssenatorin Kristina Vogt kritisierte, dass durch die Änderungen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes zwischen den Jahren 2013 und 2017 sehr viel Wertschöpfung nach Asien abgewandert und „Trübsal“ in der Region eingekehrt sei. „Jetzt ist die Situation anders“, hob sie hervor. Die Offshore-Windenergie solle wieder rasant an Fahrt aufnehmen und es stelle sich die Frage, wie die Ziele erreicht werden können, nachdem viele Arbeitskräfte verloren gegangen sind. Dennoch gab sie sich optimistisch, dass die Region dies mit ihrer ausgeprägten Forschungslandschaft, den Universitäten, den immer noch zahlreich vorhandenen Windenergie-Unternehmen und den Werften schaffen könne.
Für den Nordwesten sieht Vogt in diesem Kraftakt ein „ungeheures Wertschöpfungspotenzial“. Das große Angebot an Offshore-Wind sei attraktiv für die Ansiedlung von Unternehmen, die auf einen kurzen Weg zwischen der Erzeugung und der Nutzung erneuerbarer Energien angewiesen sind.
Energy Port „unbedingt erforderlich“
Um dieses Potenzial auch für Bremerhaven und Bremen bestmöglich nutzen zu können, fordert sie den Bau des Energy Ports als zentrales Projekt. Dieses sei aufgrund der extremen Ansprüche an die Logistik unbedingt erforderlich: „Es ergibt keinen Sinn, die Unternehmen irgendwo jenseits der Küste anzusiedeln.“
Bis zum nächsten Sommer will Bremen die Planungen an die Bundesregierung schicken und Vogt sieht gute Chancen, dass das Projekt genehmigt wird – „hoffentlich im beschleunigten Verfahren, denn sonst kann es sehr lange dauern.“ Mit Wirtschaftsminister Robert Habeck und dem maritimen Koordinator der Bundesregierung, Dieter Janecek, habe sie darüber bereits gesprochen.
Zahl der gebauten Fundamente muss sich vervierfachen
„Wie sollen wir das alles schaffen?“ fragte sich auch Jens Meyer-Holtz, Head of Projects and Permitting bei der RWE Offshore Wind GmbH. Insgesamt seien in diesem Jahr Flächen mit einem erwarteten Ertrag von 8 Gigawatt (GW) vergeben worden – „in den letzten 15 Jahren wurden zusammen nicht einmal 8 GW in Betrieb genommen“. Bis 2030 sollen laut Bundesregierung 30 GW in Betrieb sein, bis 2045 insgesamt 70 GW. „Und das ist ja noch nicht alles“, so Meyer-Holtz. „Auch die anderen Nordsee-Anrainer haben sich Ziele gesetzt, und zwar insgesamt 120 GW bis 2030 und 300 GW bis 2050. Wow.“
Aufgrund des großen Vorlaufs sei ungefähr zwischen 2028 und 2031 mit der intensivsten Ausbauphase zu rechnen, schätzt er. Nun sei es erforderlich, die Bauzahlen der Turbinen pro Jahr weltweit zu verdoppeln und die Zahlen der Fundamente zu vervierfachen. Auch der Bau neuer Spezialschiffe müsse verdoppelt werden. „Der Start ist jetzt“, betonte er in der Handelskammer.
Einstieg der Ölkonzerne sorgt für neue Finanzierungsquellen
Die Branche gerät durch die plötzliche Kehrtwende unter Druck, freut sich aber über die Aufträge. „Die Trübsal ist bei uns eindeutig vorbei“, so Meyer-Holz. Seit er im Jahr 2000 bei RWE eingetreten sei, habe das Unternehmen seine eigene Energiewende absolviert und produziere den Strom mittlerweile zu 60 Prozent aus erneuerbaren Quellen. „Die sehr niedrigen Ausbauziele in der Vergangenheit haben uns auch immer verwundert“, sagt er. Nun sei man über die ambitionierten Ziele im Koalitionsvertrag der Ampel überrascht gewesen – „wir waren ja Kummer gewohnt und mussten uns erst einmal die Augen reiben, als wir das gelesen haben“. Auch die schnelle Umsetzung der Ziele im Wind-See-Gesetz sei dann noch einmal überraschend gekommen – „völlig ohne Streit, auch die Opposition hat nichts dazu gesagt. Es scheint also ein breiter Konsens zu sein, diese Ziele jetzt durchzusetzen.“
Trotz der aktuellen Lieferkettenprobleme und gestiegenen Kosten sieht er die Chancen, die Ziele zu erreichen, als hoch an. Ein Grund dafür ist, dass mittlerweile auch die Ölkonzerne ins Geschäft drängen. Diese seien zwar einerseits eine erhebliche Konkurrenz für Unternehmen wie RWE Offshore Wind, andererseits brächten die Konzerne aber auch neue Finanzierungsquellen und neue Ideen mit ein, daher sehe er deren Engagement insgesamt positiv.
Die Finanzierungsquellen machten sich schon bei der erstmaligen Auktion von Flächen durch die Bundesnetzagentur im Juli 2023 bemerkbar. Unter den erfolgreichen Bietern befanden sich laut Meyer-Holz mit BP und Total zwei finanzstarke Konzerne. Die drei verfügbaren Flächen spülten dem Bund 12,6 Milliarden Euro in die Taschen – fast doppelt so viel wie die Versteigerung der 5G-Mobilfunklizenze im Juni 2019. Dass dieser Erfolg in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde, ärgert Meyer-Holz.
Starke Schwankungen bei den Bewerbungen um Studienplätze
Für die Branche spielen Medien und Politik auch beim Thema Fachkräfte eine wichtige Rolle. wie Professor Holger Lange erläuterte, der an der Hochschule Bremerhaven den Masterstudiengang Windenergietechnik und den MBA Offshore-Windenergie betreut. „Wenn die Politik positive Meldungen bringt und die Gesellschaft sagt, „das finden wir gut“, dann gehen die Studienzahlen in beiden Studiengängen nach oben“, berichtete er. Dies sei beispielsweise zu Beginn der Ampelkoalition der Fall gewesen, als die Zahlen für den Windenergie-Master rasant gestiegen seien. In letzter Zeit sei die öffentliche Stimmung gekippt – und mit ihr der Zulauf zu den Studiengängen. „Wir könnten 100 Abgänger mit einem Job versorgen, aber wir kriegen im Moment gerade mal zehn Studierende zusammen in einem Studiengang, der für 15 ausgelegt ist“, berichtet er.
Zusätzlich zur schlechter werdenden Stimmung mache sich auch bemerkbar, dass ingenieurwissenschaftliche Studiengänge zurzeit allgemein weniger beliebt seien. „Es ist einfach zu schwer“, so Lange. An eine baldige Umkehr dieses bundesweiten Trends glaubt er nicht: „Die Fächer sind schwer und daran wird man auch nichts ändern können – man kann nicht plötzlich Mathe weglassen“, so Lange. Insgesamt sei die Zahl der Studierenden „deutlich zu wenig für das, was wir vorhaben.“
Moderator Jens Assheuer, Vorstandsvorsitzender des WAB e.V., beantwortete die Ausgangsfrage nach der Chance der Offshore-Windenergie für den Nordwesten mit einem deutlichen „Ja“: „Wir müssen investieren, wir müssen rangehen.“ Manchmal müsse man es auch wie die Niederlande machen: „Die fangen erstmal an, schreiben aus, und wenn es nicht funktioniert, macht man es in der nächsten Ausschreibung besser und steuert nach. Wichtig ist, dass wir anfangen.“