Die „Zeitenwende“, die Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine ausgerufen hat, wurde Mitte September in Bremerhaven für alle sichtbar: Mitten im Stadtgebiet probte die Bundeswehr den Ernstfall. Diese Übung war auch ein Signal an Wirtschaft und Gesellschaft: „Die Verantwortung für unsere Sicherheit und Freiheit darf nicht allein auf den Schultern von Soldaten liegen“, betonte Carsten Breuer, Generalinspekteur der Bundeswehr.
Breuer erklärte bei der Veranstaltung „Transformation der Wirtschaft im Kontext wachsender sicherheitspolitischer Risiken“, zu der die Handelskammer Bremen ins Bremerhavener Kammergebäude eingeladen hatte, dass Deutschland weiter umdenken müsse. „Soldaten sind vielleicht diejenigen, die Schlachten gewinnen“, sagte er. „Aber Kriege gewinnt die Wirtschaft, deswegen müssen wir die Kapazitäten der Rüstungsindustrie stärken. Je schneller wir die Streitkräfte ausrüsten können, desto besser können wir Putin zeigen: ‚Bis hierher und nicht weiter.‘“
Laut Handelskammer-Präses Eduard Dubbers-Albrecht ist die Abschreckung von kriegerischen Aktivitäten auch eine Grundvoraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg. „Ganz klar ist: Der Freihandel und die Lieferketten sind durch die zunehmende Anspannung in der Welt gefährdet“, sagte er.
Allerdings besteht eine Herausforderung für alle Beteiligten darin, dass die tatsächliche Bedrohungslage in Deutschland schwer zu erfassen und zu vermitteln ist. „Wir haben nicht mehr ganz Frieden, aber auch noch nicht ganz Krieg“, beschrieb es General Breuer. Die Zeichen seien jedoch eindeutig, dass Russland bereits in der Bundesrepublik aktiv ist. So ließen sich die vereitelten Sabotagepläne auf dem NATO-Flugplatz Geilenkirchen beispielsweise sehr klar auf Russland zurückführen. Gleiches gelte für die Drohnen, die über deutschen Kasernen kreisen, in denen ukrainische Soldaten ausgebildet werden.
Die rasant wachsende Bedeutung von Drohnen ist für Breuer auch ein lehrreiches Beispiel, wie sich die Debatte in der Bundesrepublik ändern müsse. Hier sei lange diskutiert worden, ob man Drohnen bewaffnen dürfe, und zu dem Schluss gekommen, dass es der falsche Weg sei. Der Ukraine-Krieg zeige nun, dass die internationale Entwicklung in eine ganz andere Richtung gehe und „wir in unseren Auffassungen überholt worden sind. Vielleicht haben wir richtig hingeschaut, vielleicht auch nicht, aber auf jeden Fall haben wir nicht die richtigen Schlüsse gezogen. Meine Frage ist: Wo schauen wir heute nicht richtig hin?“
In der Bevölkerung sei die veränderte Sicherheitslage jedenfalls noch nicht angekommen, glaubt Thomas Röwekamp, Mitglied des Verteidigungsausschusses im Bundestag. „Wir sind zwar ein kleines Stück vornagekommen, aber ich glaube, dass da noch die größte Herausforderung der Zeitenwende liegt.“ Immerhin: Die Verteidigungswirtschaft profitiert bereits von einem Bewusstseinswandel, der zumindest in Teilen der Gesellschaft spürbar ist, denn der Kreis qualifizierter Bewerber erweitert sich. „Wir kommen mit Personen ins Gespräch, die wir vor drei oder fünf Jahren nicht hätten begeistern können“, berichtete Lars-Uwe Hansen, Standortleiter Bremen der Airbus Defence & Space GmbH. „Das liegt auch daran, dass die wehrtechnische Industrie aus der Schmuddelecke, in der sie vor zehn Jahren war, herausgekommen ist.“
Auch Atlas Elektronik erfreut sich zunehmender Beliebtheit unter den hochqualifizierten Arbeitsuchenden. Dort wird man innerhalb von sechs Jahren den Umsatz verdoppeln müssen, denn die entsprechenden Aufträge sind größtenteils schon da. Bereits jetzt würden jedes Jahr rund 100 bis 200 zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingestellt, berichtete Geschäftsführer Peter Michael Ozegowski.
Der Standort Bremen müsse jedoch mehr tun, um seine Chancen in dieser Branche zu nutzen, forderte Handelskammer-Hauptgeschäftsführer Dr. Matthias Fonger. Bremen sei ein Zentrum der wehrtechnischen High-tech-Industrie mit Kompetenzen in der Entwicklung von Fregatten, Satelliten, Militärflugzeugen und Software. Gleichzeitig gebe es ein Landesgesetz, das die Hochschulen verpflichtet, Zivilklauseln zu erlassen, die nicht nur technische Kooperationen verhindern, sondern auch die Ausstellung der Unternehmen auf Hochschul-Jobmessen unterbinden. „Das ist in der jetzigen Zeit völlig verfehlt“, so Fonger. „Das muss geändert werden.“
Darüber hinaus wies der Hauptgeschäftsführer auf notwendige Investitionen in die Infrastruktur hin, die gleichermaßen der Wirtschaft und der Verteidigung dienen würden. Das Land Bremen, und vor allem Bremerhaven, sei im Verteidigungsfall ein sehr wichtiger Hub für die amerikanischen Streitkräfte. Autobahnbrücken könnten häufig kaum noch die LKW aushalten und würden erst recht Probleme bekommen, wenn Panzer hinüber rollen müssten. „Es ist auch ein Teil der Zeitenwende, dass wir wieder massiv in den Erhalt und Ausbau von Infrastruktur investieren müssen.“
Bild oben:
Soldat bei der Übung „Fishtown Guard“ in Bremerhaven.
Foto: Antje Schimanke