Viele Einzelhändler sind nach einem Jahr Corona-Pandemie und dem Lockdown ohne eigenes Verschulden in große finanzielle Schwierigkeiten geraten. Im Interview gibt Stephan Schulze-Aissen, Vizepräses der Handelskammer Bremen – IHK für Bremen und Bremerhaven, Einblicke in die persönlichen Notlagen der Einzelhändler.
Wie ist aktuell die Stimmung im Einzelhandel?
Die Stimmung ist nach meiner Wahrnehmung zum Jahresbeginn gekippt. Über lange Zeit wurden die Maßnahmen von Bürgern und Unternehmen mitgetragen, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Es gab Lockerungen wie „Date & Collect“, für viele vom Lockdown betroffene Branchen sind die Öffnungsperspektiven aber nach wie vor zu vage. Laut Robert Koch-Institut finden mehr als 60 Prozent aller Infektionen in privaten Haushalten, Pflegeheimen und Krankenhäusern statt. Da ist schwer nachzuvollziehen, dass der Handel, der seit langem über ausgefeilte Hygienekonzepte verfügt, durch Schließungen zum Kollateralschaden gemacht wird. Das halte ich für eine falsche Strategie.
Hinzu kommt: Discounter durften durchgehend alle Sortimente verkaufen – auch diejenigen, die der Facheinzelhandel nicht verkaufen durfte. Das sorgt bei den Menschen für Fassungslosigkeit.
Wie steht es um die finanzielle Situation der Betriebe?
Es ist wirklich Verzweiflung da, denn das Eigenkapital wird an jedem Tag weiter aufgebraucht, an dem gar nicht oder nur eingeschränkt geöffnet werden darf. In Umfragen des Handelsverbands Deutschland sagen 25 Prozent der Unternehmen, dass sie schon jetzt intensiv von der Insolvenz bedroht sind, weitere 25 Prozent spätestens ab Sommer. Das sind gigantische Zahlen. Wir reden dabei nicht nur über kleine Einheiten mit drei oder fünf Mitarbeitern, sondern auch über größere Unternehmen.
Zusätzlich geht es um den Unternehmerlohn, der nicht bei den Überbrückungshilfen berücksichtigt wird. Viele Geschäfte sind mittlerweile mehr als drei Monate geschlossen. Kolleginnen und Kollegen sagen mir, dass sie mit fortschreitender Zeit entweder ihre Altersvorsorge – z.B. ihre Lebensversicherung – oder etwas anderes beleihen müssen. Es ist also wichtig, dass jetzt klügere Lösungen angegangen werden.
Wie sieht es in Ihrem eigenen Unternehmen aus?
Wir handeln mit Bettwaren, und unsere Firma ist 125 Jahre alt. Wir führen das Unternehmen in vierter Generation. Auch meine Vorfahren haben Krisen erlebt, darunter zwei Weltkriege. Irgendwie versucht man, die Dinge hinzukriegen, und wenn man sparsam haushaltet, funktioniert das auch über eine gewisse Zeit. Aber diese Ungleichbehandlung, die jetzt im Markt stattfindet – Konkurrenten durften online und auch stationär alles verkaufen, wir aber für viele Monate vor Ort nichts – gab es noch nie. Wir sind zwar auch online unterwegs, aber das ist nicht unser Kerngeschäft. Damit machen wir ungefähr 20 Prozent unseres Umsatzes.
Wir haben immer solide gehaushaltet und sind insofern eigenkapitalstark. Daher werden wir durch die Krise kommen; aber auch wir haben keine Gelddruckmaschine im Keller stehen. Insgesamt sollte man immer versuchen, einen kühlen Kopf zu bewahren und zu rechnen. Wo gibt es noch Möglichkeiten, Umsätze zu generieren, und wie kann man seine Mitarbeiter unterstützen und optimistisch halten?
Was sollten aus Ihrer Sicht die nächsten Schritte auf dem Weg zur weiteren Öffnung sein?
Ich kann nur einen Strategiewechsel empfehlen. Die Öffnung nach Terminvereinbarung – ein Vorschlag der Handelskammer – war der erste richtige Schritt. Wir müssen jetzt aber auch andere Wege gehen, als allein auf Inzidenzwerte zu schauen. Ich sehe momentan die größten Chancen darin, wenn wir den Dreiklang aus Hygienekonzepten, Schnelltests und verstärkten Impfungen nutzen. Am besten wäre es, wenn wir in kürzester Zeit möglichst viele Menschen impfen könnten, um schnell zu Herdenimmunität zu kommen. Solange noch nicht die entsprechenden Mengen an Impfstoff vorliegen, geben Schnelltests und das weitere Einhalten der Hygieneregeln Möglichkeiten, einen Übergang zu gestalten, bis genügend Impfstoff verfügbar ist. Das wäre auch der Weg, um Branchen, die nach wie vor geschlossen haben müssen, eine ganz konkrete Perspektive geben zu können.
Sehen Sie trotz allem auch Chancen in der Krise?
Die große Chance ist, dass viele Dinge, die für uns alle selbstverständlich waren, jetzt wieder wertgeschätzt werden. Das konnte man hier in Bremerhaven an den Wochenenden beobachten. Die Menschen waren bei tollem Wetter mit ihren Kindern am Deich, haben Picknick gemacht, alles unter Einhaltung der entsprechenden Rahmenbedingungen. Super. Das hat man „vor Corona“ weniger gesehen.
Diesen Trend sehen wir auch im Einzelhandel – bei Lebensmitteln, aber auch im Bereich Textil: Viele achten mehr darauf, was sich regional oder in Europa produzieren lässt. Das, glaube ich, ist etwas Gutes.