Hoffnung, Glück, Erfolg, Scheitern und Armut – Migration hat vielfältige wirtschaftliche Aspekte. Bewegend inszeniert und wissenschaftlich exakt trägt das Deutsche Auswandererhaus seit 16 Jahren zur Versachlichung einer emotionalisierten Debatte bei. Mit der neuen Erweiterung schlägt das Museum die Brücke von der Aus- und Einwanderungsgeschichte zum aktuellen Thema Migration.
Demonstranten schwenken Spruchbänder und Plakate, diskutieren über Flucht und Vertreibung, Auswanderung und Asyl. Die Forderungen sind teilweise widersprüchlich und stammen aus unterschiedlichen Epochen der Bundesrepublik. Ein fairer Lastenausgleich für die Aufnahme von Heimatvertriebenen (50er Jahre), gleiche Löhne für deutsche Arbeitnehmer und ihre als „Gastarbeiter“ bezeichneten Kollegen (60er und 70er Jahre), die politisch angeheizte Kontroverse zwischen dem Vorwurf des „Asylmissbrauchs“ und dem Verlangen nach einem liberaleren Asylrecht (80er und 90er), dazu konträre Ansichten zu der in jüngster Zeit diskutierten Frage: Wer darf eigentlich Deutscher sein? Das Aufeinandertreffen ist bewusst inszeniert: Das begehbare Diorama mit Figuren als Demonstranten gehört zum neuen Ausstellungsteil des Deutschen Auswandererhauses. „Wir wollen nicht nur die Bandbreite der Debatte um Migration in den vergangenen Jahrzehnten zeigen, sondern vor allem zur Versachlichung der Diskussionen beitragen“, sagt Direktorin Dr. Simone Blaschka.
Einblicke in die jüngere Geschichte
16 Jahre nach seiner Eröffnung hat das Deutsche Auswandererhaus (DAH) eine neue Dimension erreicht. Am Anfang beschäftigte sich das deutschlandweit einzigartige Museum mit den historischen Aspekten des Aufbruchs in eine neue Welt, der für rund sieben Millionen Europäer bei der Ausreise über Bremerhaven führte. Mit dem zweiten Bauschnitt kam 2012 der Aspekt der Einwanderung hinzu. Wie es Menschen nach der Ankunft in einem fremden Land ergeht, gehört zu den beherrschenden Fragen. Antworten gibt es auch anhand von Beispielen aus den Jugendjahren der Bundesrepublik.
„Deutschland ist ein Einwanderungsland – und das nicht erst seit gestern“, bringt Dr. Blaschka die Botschaft auf den Punkt. Mit dem neuen Ausstellungsteil kommen spannende Einblicke in die jüngere Geschichte hinzu, aber auch die kontroversen Debatten, die sich seit Jahrzehnten am Thema Migration entzünden. Der Demonstrationszug ist Symbol dafür.
Dem sperrigen Thema ein Gesicht geben
Im „Saal der Debatten“ finden die Besucher an Informationsstelen und szenischen Installationen Fakten zu den hoch emotional geführten und bisweilen gezielt angeheizten Debatten. „Wissen ist die beste Basis, um die Diskussionen zu versachlichen und die Hintergründe für Migration zu verstehen“, betont die Museumsdirektorin.
In dem Ausstellungsraum können sich die Besucher an die Orte der Debatten und Konflikte begeben. Neben der Demonstration auf der Straße spiegeln sich in der mit viel Liebe zum Detail gestalteten Raumcollage Bundestagsdebatten genauso wider wie Diskussionen im privaten Umfeld und die Arbeit der Migrationsforscher. Wie in den vorherigen Ausstellungsteilen haben die Gestalter um den Architekten Andreas Heller dem sperrigen Thema ein Gesicht gegeben. So können die Besucher am Beispiel realer Schicksale nachvollziehen, wie Migranten beispielsweise den Umgang mit alltäglicher und institutioneller Diskriminierung erleben.
Angebot an die Wirtschaft
Mit der jüngsten Erweiterung hat das DAH der sachlichen Wissensvermittlung noch mehr Raum gegeben. In der neuen „Academy of Comparative Migration Studies“ bündeln die Wissenschaftler und Pädagogen ihre Bildungsprogramme für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sowie die Arbeit an Forschungsprojekten. Die Akademie ist auch ein Angebot an die Wirtschaft, für die das Thema Aus- und Einwanderung auf der Suche nach Fachkräften wieder einmal sehr nahe rückt. Mit der Kombination aus der anrührenden Ausstellung und der wissenschaftlichen Vermittlung von Fakten wird das Museum für Unternehmen zur Eventlocation und zum Seminarzentrum.
„Die Unternehmen greifen immer häufiger auf Arbeitskräfte aus dem Ausland zurück“, sagt Blaschka. „Damit stehen die Firmen auch vor der Aufgabe, die Integration der Zugereisten und das Miteinander unterschiedlicher Kulturen im Arbeitsalltag zu bewerkstelligen.“
Die Grundlagen dafür liefert das DAH. Dass wirtschaftliche Entwicklung und Migration eng miteinander verknüpft sind, zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Ausstellung. Wirtschaftliche Not zwang Millionen von Europäern, die Heimat zu verlassen. Der Bedarf an Arbeitskräften in der Pionierzeit der USA ließ Amerika für Notleidende in Europa zur strahlenden neuen Welt werden. Die fortschreitende Industrialisierung in Europa sorgte für große Wanderströme auf dem Kontinent. Und mit dem Wirtschaftswunder setzte sich die lange deutsche Geschichte als Einwanderungsland fort.
Porträts von Migranten in der Fassade des Neubaus
270 Frauen und Männer aus 30 Ländern mit einer selbst oder in der Familie erlebten Migrationsgeschichte haben zu dem dritten Ausstellungsteil beigetragen. Mehr als 100 Porträts von 31 Migranten, die seit 1987 nach Bremerhaven kamen, sind in die Fassade des Neubaus eingearbeitet – durch eine besondere Technik werden sie je nach Licht und Wetter schwächer oder stärker sichtbar.
„Wer seine eigene Familie genauer anschaut, findet unter seinen Vorfahren fast immer einen Vorfahren, der die Heimat verlassen hat“, sagt Blaschka, „oder man ist sogar selbst derjenige, der aus beruflichen Gründen eine neue Heimat finden musste.“ An der Außenwand des Neubaus ist dies zu einer klaren Botschaft zusammengefasst: „Wir leben zusammen.“