In der Digitalisierung genießt Deutschland einen schlechten Ruf, aber im Bereich des „Internets der Dinge“ für die verarbeitende Industrie verfügt die Bundesrepublik über herausragende Expertise. Es mangelt allein an der zügigen Umsetzung.
Im internationalen Vergleich steht die deutsche Industrie bei der Digitalisierung gut da. Eine besondere Stärke liegt in der Definition von Standards und Normen für Daten: „Hier sind wir best in class“, erläutert Dr. Dominik Rohrmus, Chief Technical Officer des Vereins Labs Network Industrie 4.0 (LNI 4.0) und Industrie-4.0-Experte bei Siemens. Wichtige Datentechnologien würden von deutschen Experten geprägt, in die globale Standardisierung und Normung gebracht und von anderen Staaten übernommen, berichtet er.
Auch bei der politischen Unterstützung durch große staatliche Projekte sieht er Deutschland weltweit mindestens auf Platz 2. Zu diesen Projekten zählt er beispielsweise Catena-X und Manufacturing-X – zwei Programme zur Digitalisierung der Lieferketten und laut Rohrmus „die nächste Entwicklungsstufe von Industrie 4.0“. Das Ziel sei es, den vertrauensvollen Datenaustausch zwischen Unternehmen weitgehend automatisiert auf Basis von globalen Standards und digitalen Zwillingen zu ermöglichen und dabei gleichzeitig allen Beteiligten die Souveränität über ihre Daten zu sichern.
Digitale Technik, die Jahrzehnte lang funktioniert
Für die Industrie löst Manufacturing-X mehrere zentrale Probleme. Eins davon: Software altert wesentlich schneller als Hardware. „Eine Werkzeugmaschine lebt bis zu 50 Jahre“, sagt Rohrmus. Die Hersteller werden die Instandhaltung für diese Maschinen oft noch leisten müssen, wenn sich kaum noch Personal finden lässt, das die alten Softwaretechnologien beherrscht. Ein Mittelständler, der beispielsweise eine erhebliche Summe in eine Verpackungsmaschine oder eine Abfüllanlage investiert, kann es sich nicht erlauben, sie nach wenigen Jahren wieder auszutauschen, weil die IT-Sicherheit nicht mehr gewährleistet ist.
Darüber hinaus bieten sich jedoch zahlreiche weitere Vorteile an: Von der effizienten Zusammenarbeit in der Lieferkette über das sichere Hinterlegen juristisch relevanter Informationen – beispielsweise Testprotokollen – in einem Produkt bis zur automatischen Bewältigung zeitraubender Dokumentationspflichten.
Die Verpflichtung zur Bereitstellung von umfassenden Daten werde jedes Unternehmen in Deutschland treffen, glaubt Rohrmus, auch wenn der Betrieb selbst keine digitalen Geschäftsmodelle verfolgt. Selbst die Kleinen würden irgendwann Daten liefern müssen, da sie sich in einer Lieferkette befinden. „Wenn sie dazu nicht bereit sind oder es nicht können, sehe ich die Gefahr, dass sie vom Markt verschwinden“, sagt er.
Als Beispiel nennt Rohrmus die Übermittlung von CO2-Werten und digitalen Produktpässen. Ein Unternehmen könne diese künftig automatisiert an den nächsten Punkt in der Lieferkette übertragen, der sie ebenfalls automatisiert bündele und an den folgenden Punkt weitergebe. Am Ende der Kette könne beispielsweise ein Automobilhersteller die Summer der einzelnen Meldungen mit geringem Aufwand zusammenfügen und eine Gesamt-CO2-Bilanz eines Produkts erstellen.
Umsetzungslangsamkeit beheben
Viele der dafür benötigten Technologien stehen bereits bereit, allerdings kommt an diesem Punkt Deutschlands größte Schwäche ins Spiel: „Die Geschwindigkeit der Umsetzung in Produkte, die Sie am Markt kaufen können, ist nicht gut genug“, so Rohrmus. „Da stoßen zwar Start-ups und KMU in die Lücken, aber sie skalieren nicht auf der Dimension von Konzernen wie BASF, BMW, Siemens oder anderen. Wenn Sie etwas Neues wie Industrie 4.0 oder Manufacturing-X in den Markt einbringen, müssen Sie über große, skalierende Kundensysteme gehen. Diese Marktmechanismen gelten unverändert.“
Im gemeinnützigen Verein LNI 4.0 haben sich Unternehmen und Verbände zusammengeschlossen, um den Transfer von Industrie-4.0-Technologien in kleine und mittlere Unternehmen zu beschleunigen und ihre Anforderungen – beispielsweise an Manufacturing-X – zu bündeln. Kern des Angebots ist ein Netzwerk von Testzentren, in denen neue Lösungen vorwettbewerblich und herstellerübergreifend neutral getestet werden können, um beispielsweise eine zügige Skalierung des Angebots sicherzustellen – gerade auch in KMU.
„Wenn man ein prototypisches Produkt dorthin bringt und eine Technologie ausprobiert, weiß man danach: Das geht“, sagt Rohrmus. Die Industrie 4.0 und das Internet der Dinge (IoT) seien so neu, dass es noch nicht viele Referenzprodukte gebe. Daher fehlten Erfahrungswerte. „Wer macht den ersten Schritt? Das kann man beim LNI 4.0 tun – risikoarm verproben. Man bringt seine Produkte mit, die anderen auch, und dann kann man herstellerübergreifend testen. Das ist der Mehrwert des Vereins.“
Manufacturing-X
Das Programm Manufacturing-X des Bundeswirtschaftsministeriums soll nicht nur die Entwicklung, sondern auch die Anwendung der neuen Technologien für KMU künftig so einfach wie möglich machen. Es soll eine Art geschützten App Store für den neuen Datenraum geben, in dem sich wichtige Bausteine herunterladen lassen – ähnlich wie bei den bekannten App Stores der großen Internetkonzerne, allerdings nicht mit dem kurzen Verfallsdatum und der oft mangelhaften Sicherheit der dort verfügbaren Produkte. Manufacturing-X-Apps sollen beispielsweise in der Lage sein, die Daten aus Maschinen unterschiedlicher Hersteller einfach zu bündeln, um sie gemeinsam verarbeiten zu können.
Der deutschen Wirtschaft könnte eine deutlich beschleunigte Anwendung ihrer herausragenden theoretischen Kompetenzen im Bereich der Digitalisierung vielleicht helfen, wieder dorthin zu kommen, wo sie einmal war. Wenn in den 80er Jahren auf internationaler Ebene etwas produziert werden sollte, sagt Rohrmus, sei es im Wesentlichen auf zwei Optionen hinausgelaufen: „In Japan oder in Deutschland?“
Weitere Informationen:
lni40.de