In Sachen Digitalisierung gilt Estland als europäischer Vorreiter. Von den jahrzehntelangen Erfahrungen des baltischen Landes können auch heimische Unternehmen profitieren: Das zeigt beispielhaft die Zusammenarbeit des Bremer Start-ups Sensorise mit Proekspert, einem Software-Entwickler aus Tallinn.
Es ist ein modernes Bürogebäude mit viel Raum zur Gestaltung unterschiedlicher Arbeits- und Pausenbedürfnisse, das Proekspert vor zehn Jahren in der estnischen Hauptstadt bezogen hat. „Am Anfang haben wir klassisch in einer Garage gearbeitet, wie man sich das so vorstellt“, sagt Indrek Mägi und lacht. Der Software-Entwickler ist als Experte für Frequenz-Umrichter und Industriegeräte mit an Bord: eines der Standbeine des Unternehmens, das sich als Full-Service-Partner für die digitale Transformation längst einen internationalen Kundenkreis erarbeitet hat. „Estland ist zu klein für uns“, erläutert er, „darum suchen wir uns unsere Kundschaft auch im Ausland.“ Ob kundenspezifische Software, sichere eingebettete Software-Updates, Cloud-Lösungen, Datenanalyse oder eingebettete Steuerungssysteme: „Wir wollen mit unseren Entwicklungen einen Beitrag leisten, die Welt zu gestalten und die Menschheit durch Technologie voranzubringen“, berichtet Mägi.
Als Proekspert 1993 gegründet wurde, hatte Estland gerade seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt. Der Begriff Digitalisierung war zu der Zeit für die meisten Menschen noch ein Fremdwort, doch die estnische Regierung setzte konsequent darauf, die Verwaltung schlank zu halten und möglichst viele Dienste digital anzubieten. Heute sind fast 100 Prozent aller staatlichen Dienstleistungen online verfügbar – und Proekspert konnte in diesem technologiefreundlichen Umfeld auf mehr als 170 Mitarbeitende anwachsen. Den Grundstein für die Erfolgsgeschichte legte in den 1990er-Jahren die Programmierung der damals im Land neu eingeführten Geldautomaten und Kartenzahlungssysteme. Inzwischen arbeiten die Software-Entwickler aus Tallinn mit Unternehmen aus den unterschiedlichsten Branchen zusammen, unter anderem aus der Automobilindustrie, der Medizin und dem Einzelhandel. Und seit einiger Zeit auch mit dem Bremer Start-up Sensorise: „Wir haben einen Partner gesucht, um uns auf dem deutschen Markt bekannter zu machen und neue Kontakte zu knüpfen“, berichtet Indrek Mägi. „Dabei hilft uns Sensorise.“
Win-win-Situation
In die andere Richtung hilft Proekspert mit seiner Software-Expertise dabei, das Produkt des Start-ups besser zu machen und weiterzuentwickeln. Dessen Geschäftsführer Cord Winkelmann hatte sich schon in seiner Promotion an der Universität Bremen damit auseinandergesetzt, wie sich herkömmliche Maschinenbauteile durch die Einbettung von Sensoren digitalisieren lassen. Als er dann bei der Cebit 2018 Vertreter von Proekspert kennenlernte, beschäftigte ihn die Idee, in die Herstellung intelligenter Schrauben einzusteigen – um damit die Fernwartung kritischer Verbindungen in großen Bauwerken zu ermöglichen, zum Beispiel in Offshore-Windkraftanlagen. Im Juni 2019 gründete er schließlich Sensorise, und das Software-Unternehmen aus Estland stieg als Teilhaber mit ein. „Proekspert liefert die Software, mit der sich die von den Schrauben produzierten Daten auslesen und für die Kunden aufbereiten lassen“, erläutert Winkelmann. „Und das machen sie richtig gut.“
Bei der Vertiefung ihres Kontakts erhielten die neuen Partner Unterstützung durch die Deutsch-Baltische Handelskammer (AHK Baltikum). „Proekspert ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein Unternehmen aus dem Baltikum den deutschen Markt in den Blick nimmt und mit Geduld und Energie seine Ziele verfolgt“, meint Tarmo Mutso, Leiter des AHK-Büros Estland. Ihm ist es ein Anliegen, die Errungenschaften der estnischen Wirtschaft in Sachen Digitalisierung bekannter zu machen und dafür zu werben, dass deutsche Unternehmen von den jahrzehntelangen Erfahrungen profitieren. „Da gibt es einfach einen großen Bedarf“, stellt er fest. „Wenn Deutschland wettbewerbsfähig sein will, gibt es keine Alternative zur Digitalisierung. Deutsche Firmen müssen sich weltweit die besten Lösungen ansehen, die es gibt: Warum sollten sie sich dann nicht in Estland umschauen?“
Um das zu erleichtern, bringen Mutso und sein Team regelmäßig deutsche und estnische Unternehmen zusammen – im Rahmen von Delegationsreisen, bilateralen Gesprächen oder B2B-Events. Bei ihren Besuchen seien deutsche Unternehmen, Verbände und Regierungsvertreter zumeist begeistert von den digitalen Lösungen, die sie in Estland zu sehen bekämen: „Aber sobald sie zu Hause sind, haben sie schon wieder Zweifel und meinen, dass sich das in Deutschland nicht umsetzen lässt“, berichtet der Büroleiter. „Das Zauberwort lautet dann üblicherweise Datenschutz, das ärgert mich manchmal richtig.“ Der Datenschutz lasse sich regeln, und letztlich seien digital gespeicherte Daten besser kontrollierbar als Akten in einem Schrank. „Wir Esten haben von Anfang an die Vorteile der Digitalisierung gesehen und nicht die Gefahren“, macht Mutso deutlich. „Wir haben schnell gemerkt: Digitalisierung heißt nicht nur Zeit, Geld und Effizienz, sondern auch bessere Wettbewerbsmöglichkeiten.“