In diesem Gastbeitrag erläutern Prof. Aseem Kinra, Leiter der Professur für Global Supply Chain Management an der Universität Bremen, und Piotr Warmbier, Doktorand an der Uni Bremen, die Gründe für die anhaltende Krise der Lieferketten. Dabei beleuchten sie die besondere Rolle kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) und stellen Denkansätze für die unternehmerische Transformation der globalen Lieferketten bereit.
Die Covid-19-Pandemie hat weltweit Chaos verursacht und zu zahlreichen Störungen geführt. Obwohl die mit der Pandemie verbundenen Folgen für unsere Bevölkerung und deren Gesundheit extrem sind und nicht wegdiskutiert werden können, sind die wirtschaftlichen Auswirkungen ebenfalls weitreichend und wahrscheinlich die Schlimmsten seit der Finanzkrise.
Angesichts der globalen Reichweite der Pandemie ist eine ideologische Debatte entstanden und wirft mehrere wichtige Fragen auf: Hat die Pandemie das Ende der Globalisierung und der globalen Lieferketten eingeläutet? Werden die jüngsten Störungen zur neuen Normalität und wie können unsere Lieferketten robuster werden? Zu guter Letzt: Wie können die Transformationsinitiativen hinsichtlich Digitalisierung und Nachhaltigkeit, die die deutsche Industrie begonnen hat, den neuen Herausforderungen begegnen?
Deutschland, globale Lieferketten und die Rolle der KMU
Die am stärksten betroffenen Branchen sind die, deren Produkte stark international gehandelt werden und deren Produktion auf nur wenige Länder konzentriert ist. Ein Beispiel für eine stark getroffene Industrie ist der deutsche Automobilbau. Dabei wird der Großteil der Wertschöpfung durch deutsche kleine und mittelständige Unternehmen geleistet. 80 Prozent der Lieferanten in der Automobilindustrie gehören zum deutschen „Mittelstand“, hob der VDA im Jahr 2020 hervor.
Die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft hinsichtlich des globalen Absatzes und der Versorgung hat die negativen Folgen während der langen Krise zum Vorschein gebracht. Das bedeutet auch, dass die Lieferketten des deutschen Mittelstands global ausgerichtet sind und sich durch eine hohe Komplexität, große Entfernungen und viele Zwischenhändler auszeichnen. In einer KfW-Studie aus dem Jahr 2021 wird gezeigt, dass KMU, die ihre Produkte aus dem Ausland beziehen, stärker von Materialengpässen betroffen sind als andere.
Eine Studie des McKinsey Global Institute schätzte im Jahr 2020, dass 15 bis 25 Prozent der weltweiten Warenexporte in den nächsten drei bis fünf Jahren möglicherweise in andere Länder verlagert werden könnten. Es ist jedoch unrealistisch, sich vorzustellen, dass die Lösung in der post-pandemischen Phase darin besteht, die gesamte Wertschöpfungskette zurück nach Deutschland oder ins nahe Umland zu verlagern. Es fehlen somit alternative und nachhaltige Lösungen.
Unterbrechungen in den Lieferketten und ihre strukturellen Auswirkungen
Während der Pandemie litten viele Regionen auf der ganzen Welt unter Nachfrage- und Versorgungsschwankungen, Hafenüberlastung, niedrigen Lagerbeständen, Halbleiterknappheit, Kapazitätsengpässen und Arbeitskräftemangel. All dies führte zu hohen finanziellen Auswirkungen für Unternehmen, aber auch zu einer ökologischen und sozialen Belastung für die Gesellschaft und unseren Planeten.
Hauptsächlich lösten zwei strukturelle Faktoren die langanhaltende extreme Lieferkettenunterbrechung aus, die im Allgemeinen als Welleneffekt bekannt ist. Der Welleneffekt tritt auf, wenn sich eine anfängliche Störung in einem Teil der Lieferkette nach außen ausbreitet und in einem zunehmend größeren Teil der Lieferkette Störungen verursacht.
Der erste strukturelle Faktor bezieht sich auf die maximale Auslastung von Fertigung und Logistik. Produktionswerke, Häfen und Transportkapazitäten sind teuer, daher sind sie auf eine hohe Auslastung ausgelegt. Das bedeutet, dass Reservekapazität kaum vorhanden ist und nicht viel geschehen muss, um das System zu überfordern. Geschieht dies nicht nur an einem Punkt in der Lieferkette, sondern an mehreren Stellen, wird es schwierig, Angebot und Nachfrage wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Der zweite Faktor bezieht sich auf die Verzerrungen der Nachfrage, auch allgemein bekannt als Peitscheneffekt. Der Peitscheneffekt ist ein Phänomen, bei dem Nachfrageänderungen am Ende einer Lieferkette zu Bestandsschwankungen entlang der Kette führen. Da Unternehmen eine steigende Nachfrage nach ihren Produkten verzeichnen, bemühen sie sich, Schritt zu halten und bauen Bestände auf. Dies kann zu Verzerrungen führen, die sich dann durch die gesamte Lieferketten ziehen.
Das Besondere an der Corona-Krise ist, dass die Lieferketten mit ungewöhnlich vielen Arten unterschiedlicher Unsicherheiten konfrontiert sind, die aus verschiedenen Bereichen kommen und enorme ungewisse Auswirkungen haben, nämlich Angebotsausfall, Nachfrageausfall, Produktionsausfall, politische Ungewissheit usw. Dies ist ein signifikantes Problem, da Lieferketten am besten unter den Prämissen der Berechenbarkeit und Stabilität funktionieren.
Der Welleneffekt entsteht durch die Ausbreitung extremer – aber nicht besonders häufiger – Störungen über mehrere Glieder in der Lieferkette, die wiederum eine Reihe von Peitscheneffekten in Gang setzen. Einige besondere Merkmale des Welleneffekts sind die lange Dauer der Erholungsphase und die strukturelle Störung. Lieferketten, die vom Welleneffekt betroffen sind, werden daher nicht zwangsläufig zu derselben Struktur und Leistung zurückkehren wie vor dem Eintreffen der Krise. Die Coronapandemie, nachfolgende Störereignisse und der daraus resultierende Welleneffekt sind daher in vielerlei Hinsicht ein „Tsunami“.
Was kann getan werden? Denkansätze für die globalen Lieferketten und die beteiligten deutschen KMU
In der folgenden Grafik fassen wir unsere Empfehlungen in mehreren Denkansätzen zusammen, die notwendig sind, um mit dem aktuellen Welleneffekt sowie den zukünftigen noch unbekannten „Wellen“ umgehen zu können:
Außerdem sind maßgeschneiderte Instrumente erforderlich, um die Probleme der Risikoerkennung und -minderung anzugehen, mit denen KMU derzeit konfrontiert sind. Die Professur für Global Supply Chain Management an der Universität Bremen entwickelt derzeit solche Werkzeuge zur Erreichung einer besseren Resilienz von Lieferketten, die auf den Mittelstand zugeschnitten sind. Diese Tools sollen deutsche Unternehmen dabei unterstützen, besser auf zukünftige globale Krisen vorbereitet zu sein.
Die Gastautoren
Aseem Kinra ist seit 2019 Professor und Leiter der Professur für Global Supply Chain Management an der Universität Bremen. Er hat umfassend geforscht und publiziert, zuletzt zum Thema Welleneffekt in globalen Lieferketten, nachhaltige Ausrichtung von Supply-Chain-Resilienz, Big Data Analytics und Blockchain-Anwendungen für das Supply-Chain-Management. Zuvor arbeitete er als Assistenz-Professor und später als festangestellter Professor an der Copenhagen Business School. Darüber hinaus leitete er das Graduate Diploma Program in Supply Chain Management an dieser Universität. Weitere Informationen zu seinen Aktivitäten finden Sie unter https://www.uni-bremen.de/gscm
Piotr Warmbier ist Doktorand an der Universität Bremen (Professur für Global Supply Chain Management). Seine Forschung konzentriert sich auf die Transformation der Lieferkette hin zu Resilienz und Nachhaltigkeit in der Automobilindustrie. Darüber hinaus ist er bei einem süddeutschen Automobilhersteller als Experte für Risikomanagement und Nachhaltigkeit in der Lieferkette tätig. Sein geografischer Schwerpunkt liegt in Europa und Nordamerika. Darüber hinaus verfügt er über mehr als drei Jahre Lehrerfahrung als Dozent in den Bereichen Produktion, Logistik und Supply Chain Management.